Mensch denkt in Worten, Bildern, Klängen, kann sich Gerüche und Geschmäcker vorstellen und bildet so ein inneres Abbild der Welt seines Erlebens. Worte spielen als Codierer komplexer Erfahrungen eine besondere Rolle, machen sie diese doch kommunizierbar und sind in ihrer Einzigartigkeit ein wesentliches Merkmal des Menschseins.
Zu denken, dass wir es sind, die Worte bilden, trifft es gleichwohl nicht ganz. Worte prägen uns und erschaffen einzigartige Charaktere, Kulturen, Gebräuche und Ausdrucksweisen.
Was, wenn einem die Worte fehlen. Nicht in einem Augenblick der Überrumpelung, sondern absolut. Wenn man gehörlos geboren ist und nie ein Wort gehört hat und darum nie eines auszusprechen gelernt hat. Lange lange Zeit galten nicht-sprechende Menschen als dumm, worauf das deutsche „doof“ hinweist, das im Niederländischen taub bedeutet. Vielerorts gab man sich nicht viel Mühe, mit ihnen zu kommunizieren. Gebärdensprache wertete man gar als „Affensprache“, und diese Abwertung nahm Gehörlosen eine wichtige Möglichkeit, sich zu verständigen, wortwörtlich aus der Hand. Zeitweise war Gebärdensprache gar verboten.

Gebärde

Die Abwesenheit der Kommunikationsmöglichkeiten entnahm den Menschen die Chance zur Formatierung ihres Denken. Abstraktion, Verallgemeinerung, Metaebenen – ohne Worte sind sie undenkbar.
Und das gilt auch für die Zeit. Gestern, heute, morgen, sie sind nicht wirklich erlebbar, nur benennbar, um Vergangenes, Aktuelles und Zukünftiges zu kennzeichnen. Fehlt das Wort, fehlt auch das Verständnis für Zeit. Die mittelalterlichen Dorftrottel waren durch Unterlassung von Bildung dazu gemacht worden. Ohne Worte konnten sie sich keine andere Zeit als die augenblickliche vorstellen, es fehlt das verbale Etikett. Manche Sprachen verändern die grammatikalische Struktur der Sätze und/oder einzelner Worte, um ein Geschehen in der Zeit einzuordnen, andere setzen ein Zeitwort voran und benutzen die Gegenwartsform. Gestern gehe ich in die Stadt.
Wie erklärt man einem Gehörlosen ohne Verwendung von Zeichensprache die Bedeutung von „gestern“.
Zeit bestimmt die Verwendung bestimmter Formen und diese bestimmen, wie wir denken. Ein Leben im Hier und Jetzt ist Meditierenden immer nur augenblicklich erstrebenswert, nicht aber auf Dauer.
Der unausgesprochene und doch erlernte Verlauf der Zeit geht in westlichen Sprachen von links nach rechts. Das Wort, das Sie soeben lasen, stand links von dem, das Sie gerade lesen, welches wiederum links von dem steht, das Sie sogleich lesen werden. Zur weiteren Orientierung enthält der soeben links gelesene Satz auch noch die grammatikalischen Verbformen von Imperfekt, Präsenz und Futur. Alles klar.
Diagramme, die Verläufe und Entwicklungen anzeigen folgen diesem Muster. Arabische Sprecher tun es andersherum, beides ist möglich und nur eine Frage der Absprache in der Gruppe bzw. Kultur.

am Abgrund

Unsere Vergangenheit befindet sich links von uns oder hinter uns. Doch gibt es eine Kultur, die kein Wort für links und rechts kennt. Die Kukatja Australiens sortieren die Zeit nach den Himmelsrichtungen. Im Osten geht die Sonne auf, im Westen unter, dies macht Anfang und Ende kenntlich. Ein Aborigine dieser Kultur benutzt demnach nicht seine rechte Hand, um zu schreiben – so er denn Rechtshänder ist, sondern die Hand im Osten oder Süden, wie auch immer sein Körper sich gerade zu den Himmelsrichtungen verhält. Dreht es sich mit der Front nach Osten, liegt seine Zukunft hinter ihm. Zeit wird somit nicht durch den Körper determiniert, sondern die Erde.
Doch ganz ohne Worte bleiben wir zeitlos und unfähig, uns eine Zukunft vorzustellen und anzustreben.

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Welche Worte haben Sie vor, als nächstes zu lesen?
Und auszusprechen?

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